Allgemein, Baugeschichten

Merde!

Oktober 2007. Ich bin zum ersten Mal in Paris. An einem nebligen und völlig verregneten Montagmorgen, während die Stadt komplett ausgestorben zu sein scheint (ja klar, fermé le lundi), finde ich in der fünfschiffigen gotischen Kathedrale Notre-Dame de Paris einen trockenen und willkommenen Zufluchtsort. Wenngleich ich den Innenraum der Kirche nie wieder so leer auffinden würde, so steht der Besuch der Kirche bei jedem meiner späteren Aufenthalte in Paris auf dem Programm, sodass ich auch bei freundlicheren Wetterbedingungen mal in den Genuss der Lichtspiele durch die hübschen bunten Glasfenster der prachtvollen Rosette kommen sollte.

Der mir liebste Blick auf die Kathedrale eröffnet sich meiner Meinung nach gar nicht von der Seite der berühmten Pont Neuf-Brücke oder den beiden nahegelegenen Metro-Stationen Saint-Michel und Cité aus sondern von der Seine-Brücke Pont de la Tournelle im Osten, welche die Île Saint-Louis mit dem 5. Arrondissement am Rive Gauche verbindet. Von hier konnte man nicht nur die Rückseite mit den berühmten Strebepfeilern und dem eleganten Dachreiter, der knapp 30 m über die beiden Haupttürme hinausragte, aus einem ganz besonders reizvollen Blickwinkel bewundern, sondern sich der Kirche auch etwas abseits des Trubels in aller Ruhe annähern.

Die Türme der Kirche habe ich tatsächlich erst vor anderthalb Jahren bestiegen, als ich ziemlich spontan zu meinem Geburtstag im September 2017 nach Paris gefahren bin. Tags zuvor bin ich noch auf dem Turm von Sacre Coeur auf Montmartre gewesen um eine innere Achse zu spannen zwischen den beiden bedeutenden Bauwerken in dieser ausgedehnten Stadt. Und in der Tat ist der Blick, der sich einem von den Balkonen der beiden Notre-Dame-Türme auftut, atemberaubend. Jeder kennt nicht zuletzt aufgrund Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame (orig.„Notre-Dame de Paris. 1482“) die grotesk anmutenden Wasserspeier, die sogenannten Drolerien, welche seufzend über die Stadt blicken.

Ich schaue hinunter auf den Vorplatz der Kirche wo sich die Menschen tummeln. Die meisten formen eine lockere Warteschlange, um den Innenraum zu besichtigen, andere haben sich auf den Sitzbänken der Pflanzbeete niedergelassen, einige Leute schießen Fotos, viele laufen jedoch einfach nur gemütlich über den Platz.

Ich blicke hinüber zu Montmartre, die leichte Erhebung im Norden, an deren höchstem Punkt Sacre Coeur thront, wenn von hier aus gesehen nur winzig klein, ich staune über die fächendeckend hohe Bebauungsdichte der Stadt, die voluminösen Gebäudeblöcke auf der Île de la Cité, auf der Notre Dame erbaut worden ist und freue mich über den Anblick abertausender Schornsteine, die so pariserisch doch sind.

Den Übergang von einem Turm zum anderen finde ich besonders beeindruckend, denn ungefähr in Höhe des Dachfirstes kann man von hier aus den Vierungsturm bzw. Dachreiter, welcher übrigens erst Mitte des 19. Jahrhunderts unter Eugène Viollet-le-Duc im Rahmen von umfangreichen Restaurierungsarbeiten neu errichtet worden war, aus nächster Nähe und sozusagen in Augenhöhe betrachten. Weit unten fließt die Seine unbeeindruckt durch die Stadt. Ich stoße einen leisen Seufzer aus. Paris ist und bleibt nun mal Paris, denke ich in diesem Moment. Das Märchenhafte dieser Stadt, die mitunter so hektisch, laut, chaotisch, dicht und vielleicht wider Erwarten auch völlig unromantisch sein kann, ist trotzdem überall präsent, auf den Türmen von Notre-Dame ganz besonders.

Montag, 15. April 2019. Notre Dame brennt. Gegen 20 Uhr MEZ stürzt der Dachreiter ein und durchbricht das darunter liegende Kreuzgewölbe. Merde!

Unweigerlich muss ich an weitere Brände denken, die historischen Gebäuden einen großen Schaden zugefügt haben. Ich war gerade mal 12 Jahre alt, als ich eines windigen Novembermorgens aufwachte und es hieß, die Wiener Hofburg brennt. 1996 ging das 200 Jahre alte Gran Teatro La Fenice in Venedig in Flammen auf. 2001 brannten die Wiener Sofiensäle größtenteils ab. Schmerzhaft für mich war auch der Brand, durch den im Mai 2014 die Glasgow School of Art, ein Gebäude des großen schottischen Jugendstilarchitekten Charles Rennie Mackintosh schwer beschädigt wurde. 2018 brannte das Gebäude erneut, der Schaden war sogar noch weitreichender als das erste Feuer 2014. Zwischen den beiden Brandereignissen habe ich das eingerüstete Gebäude besucht. Mich überkam ein eine ungeheure Traurigkeit, dass ich das Bauwerk nie im originalen, unversehrten Zustand gesehen habe und wollte nicht einmal Fotos machen.

In der Kathedrale Notre Dame war ich viele Male. Macht’s das besser? Nein. Absolut nicht. Der Verlust eines Gebäudes ist für mich als Architektin ohnehin schon schmerzhaft und unvergleichlich größer, seit ich mich – aus gutem Grund – mit Herz und Seele dem Brandschutz verschrieben habe.

Ein zerstörtes Gebäude – also eines mit einem Mindestmaß an architektonischem Wert – ist weit mehr als es auf den ersten Blick scheint. Selbst wenn es sich hier nicht um ein Lebewesen handelt, mutet es für mich irgendwie seltsam an, dass es keine bewährte Konvention gibt, sich von einem Gebäude zu verabschieden bzw. darum zu trauern. Immerhin ist es doch ein zerstörtes Stück Baukultur, der Verlust eines Zeitzeugnisses, eines unwiederbringlichen Originals, was einen irreparablen Schaden darstellt. Und gleichzeitig kumuliert hier auch emotionale Tragik in allen Facetten.
Kontrollverlust. Ohnmacht. Resignation. Hilflosigkeit.
Um nur einige davon zu nennen.

Notre-Dame de Paris, Wahrzeichen und Symbol. Ein Bauwerk von nicht nur beträchtlicher religiöser Bedeutung, sondern auch eines das Identität stiftet, Sicherheit gibt und von Stabilität zeugt. Ein Gebäude, das in diesem Moment so viele Menschen miteinander verbindet, und sei es nur durch die grenzenlose Betroffenheit über dieses traurige Brandereignis.


Weitere Hinweise:

Bauzeit des Gebäudes: 1163 bis 1345, spätere Modernisierung und Restaurierungsmaßnahmen

Merkmale und Besonderheiten:
Cathédrale Notre-Dame de Paris, katholische Kirche, fünfschiffiger gotischer Kathedralenbau, Türme aus Naturstein, Gebäudeabmessungen: Länge des Kirchenschiffs 130 m, Breite 48 m, Höhe 35 m, Höhe der Türme 69 m, zerstörter Dachreiter 93 m. Außenliegendes Strebewerk.
Großbrand am 15. April 2019

Besucht im Oktober 2007, September 2012, März + Oktober 2014, September 2017

Adresse: 6 Place du Parvis-Notre-Dame, 75004 Paris

Quellen und Weiterführende Links:

Wikipedia, Kathedrale Notre Dame de Paris https://de.wikipedia.org/wiki/Kathedrale_Notre-Dame_de_Paris

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