
„Wie, schon wieder?“
Eine berechtigte Frage, war ich doch gerade erst in England. In Zeiten von Overtourism und Flightshaming soll dies nun kein weiterer von solchen Reiseberichten werden, in denen es entweder darum geht, die vielen ohnehin schon überfüllten Orte noch weiter in den Vordergrund zu rücken, oder um unentdeckte Orte anzupreisen. Hier geht es um etwas anderes, denn in erster Linie war diese Reise in den Nordosten Englands und nach Edinburgh eine Reise in die Vergangenheit. ‚Retracing the roots‘, würde ich auf Englisch sagen. Also Schwarzweißfilter on und los geht’s.

Newcastle upon Tyne, 1890. An der Spitze des British Empire steht Königin Victoria. Die nordenglische Stadt, zu diesem Zeitpunkt ein Zentrum der Eisenindustrie und des Schiffsbaus, ist durch den River Tyne mit der Küste verbunden, wovon Sting heute noch in seinem Lied „The Last Ship“ singt. Dampfschiffe, dunkler Rauch, der aus den Schloten qualmt, arbeitsames Gewusel an den Docks und in den Fabriken, das harte Leben des Industriezeitalters. Auf der anderen Seite des Flusses im Süden liegt Gateshead, das seit Beginn der industriellen Revolution einen immensen Bevölkerungszuwachs erfährt und sich Richtung Süden hin immer weiter ausbreitet.

Inmitten der großflächigen Arbeitersiedlungen befindet sich der Vorort Low Fell, zu deutsch ‚Niedriger Hügel‘. Backstein dominierte Straßenzüge, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen. In einer dieser Straßen wächst mein Urgroßvater Arthur Holmes auf. Eine blaue Plakette am Elternhaus erinnert heute an den Geologen aus dem 20. Jahrhundert, der Zeit seines Lebens mit großer Beharrlichkeit das Alter der Erde erforschte. Sein bewegtes Leben ist in der Biographie „The Dating Game“ von Cherry Lewis nachzulesen, und letztendlich war es auch gerade dieses Buch, das mich dazu inspirierte, all diese Orte so viele Jahre später aufzusuchen.

Man kann die Atmosphäre von damals noch deutlich erahnen, denn bis auf den motorisierten Verkehr und ein paar zeitgenössische Läden an der Durham Road, die schon damals das Zentrum von Low Fell markierte, hat sich scheinbar nicht viel verändert. Es ist ruhig hier und im Nieselregen ist ohnehin alles in schwarz-weiß getüncht. Die Sicht reicht nicht aus, um hinabzusehen von Low Fell. Aus den Fenstern der unzähligen Reihenhäuser trifft einen so manch skeptischer Blick, verschlägt es vermutlich nur eher selten Touristen hier her.
Der Weg zurück nach Newcastle führt über die High Level Bridge, wo oben die Eisenbahn, unten die Autos fahren und Fußgänger den breiten Fluß in einer gewaltigen Höhe überqueren. Von hier aus sieht man in beiden Richtungen fast alle der insgesamt zehn Brücken, die Newcastle mit Gateshead verbinden. Die große und prägnante Tyne Bridge wurde erst in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtet und ich frage mich, ob die Stadt mit ihrem ambitionierten Brückenbau die in die Krise geratene Stahlindustrie ankurbeln und gar retten wollte. Beeindruckend sind sie allemal, die vielen Brücken in unterschiedlicher Höhenlage, von denen jede ihre eigene Farbe hat. Die niedrigen von ihnen bestechen mit ihren Öffnungsmechanismen, um die Schifffahrt nicht zu behindern.

Zeitsprung und Ortswechsel nach Durham. In der Zwischenkriegszeit expandieren die Naturwissenschaften der Durham University und richten einen Lehrstuhl für Geologie ein. Arthur Holmes tritt im Alter von 43 Jahren den Posten als erster Head of Department for Earth Sciences an. Einige Jahre später wird er Regius Chair for Geology an der University of Edinburgh.
Sowohl in Durham als auch in Edinburgh besuchen wir die beiden Wirkungsstätten von Arthur Holmes und haben die Gelegenheit, uns mit dem derzeitigen Lehrkörper und einigen Forschungsmitarbeitern unterhalten. Während das einigermaßen neue Gebäude des Department of Earth Sciences in Durham sogar seinen Namen trägt, befindet sich die School of GeoSciences auf dem Campus der Kings Buildings in Edinburgh noch im Originalgebäude von 1930, wie man an der Fassade ablesen kann.

Ein wundervolles Gebäude, eher spät-artdéco als expressionistisch, in dem noch sehr viel Bauzeitliches erhalten ist, selbst sogar der Schreibtisch, an dem Arthur Holmes in den 40er Jahren saß. Und so unterschiedlich die beiden Lehrstätten auf uns wirken, haben sie doch eines gemein, nämlich die Begeisterung und Faszination der Mitarbeiter über das weite Themenfeld der Geologie und die große Anerkennung vor seinem Vermächtnis. Es ist ansteckend. Die Auseinandersetzung mit seiner Biografie ließ mich immer wieder ganz klein werden, ist mein geologisches Verständnis doch beschämend eingeschränkt. Dennoch merke ich im Gespräch mit den Geologen, wie weitreichend diese Wissenschaft ist und in alle Bereiche unseres Lebens, unsere Umwelt, ja in die ganze Existenz der Menschheit und die Zivilisation eingreift. War es Mitte des 20. Jahrhunderts die große Frage nach dem Alter der Erde, so sind die Herausforderungen der heutigen Zeit so eng verknüpft mit der Materie unseres Planeten. Klimawandel, Erderwärmung, Erosion, Ressourcen, um nur einige davon zu nennen.
Schon am nächsten Tag blicke ich mit anderen Augen auf das Gestein und den Boden auf dem ich gehe. Jedes einzelne Element hat eine so lange Geschichte zu erzählen. Bester Zeitpunkt also, um nach einigen Tagen in der Stadt an die Küste Northumberlands zu fahren.

Berwick-Upon-Tweed, das verschlafene Nest im äußersten Nordosten Englands hat über zehn Mal die Zugehörigkeit zwischen Schottland und England gewechselt. Hier gibt es – um wieder auf ganz profane Dinge zurückzukommen – nicht nur eine fantastische Kaffeerösterei (Northern Edge Coffee), deren Kaffee ich dieser Tage morgens immer noch schlürfe um wach zu werden, sondern auch eine bezaubernde Altstadt.

Diese wiederum ist von einer Stadtmauer umgeben, von wo aus sich in fast alle Richtungen Blicke aufs Wasser auftun. Auf die See im Osten sowie den Fluß Tweed im Süden, der hier von ebenfalls von – zumindest – drei Brücken überragt wird.
Die Befestigungsanlagen lassen sich gut in einer Dreiviertelstunde umrunden, und auf der saftig grünen Wiese von Meg’s Mount finde ich den Lieblingsplatz fürs abendliche Picknick. Wir diskutieren über die Entstehung der London and North Eastern Railway, die in Berwick-upon-Tweed über die herrschaftliche Royal Boarder Bridge führt und stellen uns das Reisen mit der Bahn zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor.

Einen Katzensprung ist es bis über die Scottish Borders. Die Steilküsten an diesem wunderschönen Fleckchen Erde, dem St. Abbs Head Nature Reserve erinnern mich an die Küste im Südwesten von Wales, obwohl ich mich doch genau auf der anderen Seite der Insel befinde. Ein Naturschauspiel, das seinesgleichen sucht und jeden Kommentar überflüssig macht.

Mit Bamburgh Castle hatte ich noch eine Rechnung offen. Da haben die also Ende der Fünfzigerjahre ihren Sommerurlaub gemacht. Meine Mutter hat mir oft davon erzählt und irgendwann wollte ich mit ihr einmal gemeinsam hin. Der Strandspaziergang von Seahouses nach Bamburgh eignete sich perfekt, um sich dem Ort langsam anzunähern und sich innerlich darauf einzustimmen. Mit Blick auf die Farne Islands zeigt sich die Küste Northumberlands hier von ihrer schönsten Seite, und ganz anders ist die Stimmung als noch tags zuvor in St. Abbs. Hier treffen Gestein und Sand aufeinander. Wir finden Muscheln, die wir in unsere Taschen stecken. Wind und Wasser sind viel näher und lauter.

Die Dünen sind für mich als Vegetationsform ohnehin etwas besonderes und ungewöhnliches, haben sich meine Berührungspunkte mit dem Meer bisher in Grenzen gehalten. Kein Wunder also, dass ich ins Staunen komme, umso mehr als irgendwann die Burg hinter den Dünen hervor blinzelt.

Plötzlich fangen die Schwarzweißfotos von damals in meiner Vorstellung an sich zu bewegen, ich stelle mir meine fotografierende Oma vor, während meine Mama und ihr älterer Bruder am Fuße dieser größten aller Burgen ihre eigene Sandburg bauen, ins Wasser laufen und von den Großeltern beim Spielen beobachtet werden, während die beiden wiederum womöglich über die Gezeiten oder das Alter von Muscheln fachsimpeln. Inspiriert von diesem lebendigen inneren Bild springe ich trotz des kalten Windes und voller Energie ins Wasser. Fabulous.
Ich möchte an dieser Stelle den wunderbaren Copper Kettle Tea Room im Dorf nicht unerwähnt lassen, der uns fabelhafte Scones und wunderbaren Tee im perfekten (holzvertäfelten) Ambiente beschert. Es ist etwas ganz besonderes und außergewöhnliches, den Erinnerungen meiner Mama an diesem Ort zu lauschen.
Strangely enough, irgendwie möchte ich gar nicht zurück nach Edinburgh. Ich war Anfang der Woche ganz schön schockiert über die Menschenmassen, die sich teilweise bekifft durch die Straßen schoben und sich lautstark auf Calton Hill breit machten. Touristen, die selfiebesessen mehr an ihrem Outfit und ihrer Frisur herum zurrten anstatt die Umgebung zu beachten. Es muss ein anderes Edinburgh gewesen sein in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Vielleicht nicht mehr ganz so schwarz-weiß und verrußt wie Newcastle im Jahre 1890, sondern ansatzweise motorisiert und selbstbewusst, ein Hauch von Noblesse wehte durch die Straßen.
Ganz anders als heute. Bevor dieses Bild zerstört wird, setzen wir uns in den Bus nach South Queensferry um am Ufer des Firth of Forth spazieren zu gehen. Die Faszination für Brückenbauwerke erreicht beim Anblick der Forth Brigde ihren absoluten Höhepunkt und gewinnt durch das plötzliche Gewitter nur noch mehr an Spannung. Selten hat mich ein von Menschen erschaffenes Bauwerk so dermaßen weggefetzt, dass mir Tränen in die Augen steigen. Die rote, ca. 2,5 Kilometer lange Eisenbahnbrücke über den Firth of Forth, war die erste Brücke, die vollständig aus Stahl hergestellt wurde und es überrascht nicht, dass sie seit 2015 auf der Welterbeliste der UNESCO steht. Unbeirrt sammeln wir im strömenden Regen Muscheln weiter und sind ganz alleine auf der Welt unter dieser gewaltigen Brücke.

Ich könnte noch viel mehr erzählen von dieser Reise, über Burgen, Kathedralen und Museen, über Teehäuser und Cafés, über schrullige Markthallen und verträumte Küstenorte, über Zugfahrten und Bahnhöfe, diebische Möwen und putzige Papageientaucher, über Leuchttürme, schwere Rucksäcke, nordenglischen Humor und unverständliche Akzente, über strömenden Regen und von dem Wind, der uns beinahe von Arthur’s Seat davon geblasen hat.
Aber darum ging es ja nicht. Ich packe jetzt lieber die vielen Erinnerungen an diese Tage und unsere gesammelten Muscheln als Symbol für die Reise in die Vergangenheit in die alte Holzschachtel, die wir in einem Antiquariat in Berwick-upon-Tweed gekauft haben. Eingewickelt war die Schachtel in ein vergilbtes Notenblatt aus einem traditionellen britischen Liederbuch. Ich mach‘ die Kiste jetzt zu und setze mich mit den Bells of Aberdovey ans Klavier.

Weitere Hinweise:
Orte: Edinburgh, Newcastle upon Tyne, Gateshead, Durham, Berwick-upon-Tweed, St. Abbs, Seahouses, Bamburgh, South Queensferry
Besucht: 22 / 06 – 01 / 07 / 2019
Weiterführende Links & Quellen:
Cherry Lewis: „The Dating Game“, Cambridge University Press, 2000. ISBN 0521790514
https://www.goodreads.com/book/show/934279.The_Dating_Game
Arthur Holmes on Wikipedia
https://en.wikipedia.org/wiki/Arthur_Holmes
School of GeoSciences, University of Edinburgh
https://www.ed.ac.uk/geosciences
Department of Earth Sciences, Durham University
https://www.dur.ac.uk/earth.sciences/
Berwick-upon-Tweed, Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Berwick-upon-Tweed
Northern Edge Coffee
https://www.northernedgecoffee.co.uk
The Copper Kettle Tea Room, Bamburgh
http://copperkettlebamburgh.co.uk
Forth Bridge, Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Forth_Bridge