Allgemein, Reisezeilen

Nach Wien gehen, 1. Teil

Etappe #01.
München, Marienplatz – Ismaning
10. Mai 2020.

Nach wochenlangem Corona-Lockdown wäre ich dieses Jahr zu Muttertag so gerne nach Hause gefahren, aber die Grenzen zwischen Deutschland und Österreich waren immer noch zu. Ich war seit Monaten nicht in Wien gewesen und ja, ich hatte inzwischen echt Heimweh. Fine. Wenn ich schon nicht fahren kann, dann gehe ich halt eben zu Fuß, dachte ich an diesem verregneten Sonntagmorgen. Eine Freundin war kürzlich die erste Etappe des Fernwanderwegs von München nach Venedig gegangen, also konnte ich auch die erste Etappe nach Wien gehen.

Von der S-Bahn Station Marienplatz, meiner ersten S-Bahn- Fahrt seit Monaten, tauche ich aus der Unterwelt auf und sehe den Platz mit völlig anderen Augen als in meinem Alltag. Ich mache den Fischbrunnen als meinen Startpunkt aus, blicke hoch auf das Neue Rathaus, und stiefel rechterhand los. Vorbei an der Marienhof-Baustelle, vorbei an den Menschen die ja keine Ahnung haben, was ich beabsichtige, vorbei an der Residenz, durch den Hofgarten, und hinein in das Nadelöhr Englischer Garten, wo sich unendlich viele Leute aufhalten zwischen denen ich mich durchzuschlängeln versuche. Hinter dem Eisbach wird es langsam ruhiger und 50 Minuten nach dem Start erreiche ich in Höhe des Tivoli-Kraftwerks endlich die Isar. Ich fange jetzt bereits an zu zweifeln an meinem Projekt, was für eine verrückte Schnapsidee das doch gewesen ist. Mal sehen wie weit mich meine Füße tragen, ich weiss ja nicht so recht… aber sobald ich hier die Isar sehe, ist die Mission klar und die Richtung auch.

Ich gehe vorbei am Stauwehr, das sich hell im Fluß spiegelt, gehe weiter, weiter, immer weiter. Über die Brücke bei St. Emmeram, und unter der Brücke vom Föhringer Ring. Ab da wird’s richtig gut. Grüner, ruhiger, das Wasser klarer. Ich laufe weiter, immer rechts entlang des Flusses wo von der Seite das Licht der langsam tief stehenden Sonne durch die Blätter scheint.

Der Weg ist so dankbar. Es tut so unbeschreiblich gut, nach wochenlangem Lockdown wieder etwas anderes zu sehen als die umliegenden drei Häuserblöcke und die Stadtgrenze hinter sich zu lassen. Ich fange in Gedanken an, die weiteren Etappen zu planen, wenn ich das Projekt wirklich zu einem größeren werden lassen sollte. Und lass‘ es in Ismaning für’s erste bleiben und fahre müde zurück nach München. In einer menschenleeren S-Bahn, die vom Flughafen kommt. Mit Mundschutz.


Etappe #02.
Ismaning – Freising
17. Mai 2020

Ich hatte der nächsten Etappe die ganze Arbeitswoche lang sowas von entgegen gefiebert, und ich war so froh eine Freizeitbeschäftigung gefunden zu haben, die mich bestimmt die nächste Zeit über Wasser halten würde, solange unser Wirkungsradius weiterhin eingeschränkt sein sollte. Auf dem Programm stand die Etappe vorbei am derzeit verwaisten Flughafen. Wieviele Flugzeuge ich an dem ganzen Tag am Himmel gesehen habe? Eines.

Unter normalen Bedingungen und dem üblichen Flugaufkommen vermutlich grenzwertig bis unpackbar, ist es wohl genau der richtige Moment, in Flughafennähe wandern zu gehen. Denn nachdem ich meinen Autopiloten einschalte und drauf los gehe, stelle ich mit Erstaunen fest, welche Schönheiten sich in unmittelbarer Nähe des Flughafens befinden, mal abgesehen davon, dass ich beim Studium meiner Wanderkarte mit Erschrecken feststelle, was für einen immensen Eingriff der Flughafen in das Gebiet des Erdinger Moos und sein Ökosystem bedeutet hat. Mir war das bisher nicht bewusst.

Glücklicherweise habe ich Streber den Bayerischen Denkmalatlas noch auf sehenswerte Bebauung entlang der Strecke studiert und bin auf ein Kleinod gestoßen, das ganz unverhofft und fast in Steinwurfweite südlich vom Münchner Flughafen entfernt liegt – das Schlossgut Erching, ein bis heute intaktes Wasserschloss aus dem 17. Jahrhundert. Es lohnt den kleinen Umweg auf sich zu nehmen, eine Runde um den Wassergraben zu drehen und durch den landwirtschaftlich angelegten Ort zu spazieren.

Also sagt noch einer was gegen den Münchner Norden! Als ich vor dem Schild stehe, welches die Grenze zwischen den Landkreisen München und Freising markiert, fühle ich mich, als wäre ich unterwegs auf einer Weltreise nachdem ich wochenlang meinen Stadtbezirk nicht verlassen habe.

Stunden später erreiche ich Freising und erblicke im Abendlicht den Freisinger Dom. Wie gut, dass ich von dort nicht mehr mit der S-Bahn nach Hause gurken muss sondern ein schneller Regionalexpress fährt.


Etappe #03.
Freising – Moosburg
29. Mai 2020

Nicht viel zu sagen. Von der Freisinger Innenstadt bin ich ein wenig enttäuscht, habe ich sie in wirklich netter Erinnerung und treffe diesmal eine Großbaustelle an. Darüber hinaus ist das Wetter weniger freundlich als erhofft und Dr. Achilles mein ständiger Begleiter an diesem Freitagnachmittag. Things can’t always be perfect.

Dennoch, so schlecht ist der Abschnitt auch nicht, ich verlasse langsam die Münchner Schotterebene und mache Bekanntschaft mit den Deichen der seitlichen Uferbefestigungen, welche im unmittelbaren Münchner Umland aufgrund der Renaturierungsmaßnahmen der letzten Jahrzehnten inzwischen wenig aufzufinden sind.

Auch wenn heute nicht mein Tag zu sein scheint, erfülle ich dennoch mein Plansoll, erreiche den nächstgelegenen Bahnhof in Moosburg und ziehe folgendes Fazit: Zurückgelegte Höhenmeter: minus 45. Anzahl der gezählten Flugzeuge: mehr als 10.


Etappe #04.
Moosburg – Landshut
27.06.2020

Nach dem eher grauen und schmerzgeplagten Ankommen in Moosburg vor ein paar Wochen empfängt mich das kleine Isarstädchen an diesem Samstag vormittag deutlich freundlicher.

Unter wolkenlosem Himmel schlendere ich durch die Altstadt vorbei am Wochenmarkt und schlürfe einen wunderbaren Cappuccino in einer kleinen Kaffeerösterei. Einige Kilometer, nachdem ich die Stadt hinter mir gelassen habe, komme ich richtig gut hinein ins Gehen, erreiche die Ampermündung von wo ich mit einem Werbeplakat-würdigen Blick auf die Bahnstrecke belohnt werde und den ganzen Tag über begleitet mich die Melodie des bekannten Sting-Lieds: „and all this time… the river flows…“

Ja, was auch immer passiert in dieser mitunter so seltsamen und derzeit sowieso auf den Kopf gestellten Welt, die Flüsse fließen davon unbeeindruckt immer weiter, mal schneller, mal langsamer, mal mit höherem oder niedrigerem Wasserstand. Ich merke, wie sich die Landschaft seit München verändert hat, hier sind die Kiesbänke seltener geworden und auch das Hinterland sieht anders aus. Ich befinde mich hier im nördlichen Bereich der Vogelfreistätte Mittlere Isarstauseen, wie auf einigen Infotafeln zu lesen ist. Ich hätte mich ja schon gefreut, einen Eisvogel zu sehen…

Ich beschäftige mich eingehend mit der Fluß-Kilometrierung nachdem ich an einem überaus schönen Exemplar vorbeigekommen bin, welches mir in aller Deutlichkeit aufzeigt, dass noch weite 90 Flußkilometer bis zur Isarmündung vor mir liegen und ich heute gerade mal schlappe 5 hinter mich gebracht hab. Wie auch immer, von hier an haben diese Schilder eine ganz besondere Bedeutung und ich hatte sie bisher selten mit so großer Aufmerksamkeit wahrgenommen.

Next destination Landshut. Ich bin nur einmal da gewesen, aber es ist etwas völlig anderes, zu Fuß an einem Ort anzukommen. Ich nähere mich der Altstadt und obwohl meine Füße schon so müde sind, lasse ich es mir nicht nehmen, dieses wunderbare Städtchen zu besichtigen.

Alleine über die herausragende Baukunst ließe sich so viel erzählen. Die Burg Trausnitz, die hoch über der Stadt thront, die Kirche St. Martin mit dem dreizehnthöchsten (bzw. dem höchsten Backstein-) Kirchturm der Welt, und die pittoresken giebelständigen bunten Häuserzeilen der Innenstadt. Ich bedaure ein wenig, dass ich mir im Rahmen meiner Wanderung nicht mehr Zeit nehme, um die einzelnen Isarorte entlang der Strecke so richtig zu erkunden, die doch eine gewisse Ähnlichkeit untereinander aufweisen, genau wie die Orte entlang des Inns oder der Salzach. Mir all die Kirchen anzusehen, die Museen, Rathäuser usw. aber dann würde ich noch langsamer voran kommen. Gut zu wissen, dass meine nächste Etappe ihren Anfang in Landshut nehmen wird, ich abermals in den Genuss dieser Isar-Perle kommen werde und gönne mir zum Abschluss einen Kaffee in einem wieder überaus netten Café abseits des Altstadt-Trubels.


Etappe #05.
Landshut – Dingolfing
05. Juli 2020

Frühmorgens mache ich mich auf und werde mit einem gigantischen Licht belohnt in dem die hübschen Häuser von Landshut erstrahlen. Ich kann mich kaum losreißen von diesen fast unwirklich schönen Häuserzeilen, die sich im Wasser spiegeln und weiß noch nicht, dass heute vermutlich der beste Abschnitt zwischen München und Isarmündung vor mir liegt. Ich entscheide mich diesmal für die rechte Seite, weil ich vermute, dass ich von da die vor mir liegenden Stauseen im besseren Licht erleben werde.

So reiht sich einer nach den anderen, ein Stauwehr nach dem anderen und dazwischen komme ich dem bedrohlich wirkenden Kernkraftwerk Isar II, dessen Tage zum Glück bald gezählt sind, extrem nahe. Es ist ja eigentlich so scheußlich dieses Bauwerk, aber dennoch geht eine Faszination von diesem hyperboloiden Turm aus. Der Himmel ist ohnehin der absolute Wahnsinn an diesem Juli-Samstag, als würden die Wolken eine Cloud-Symphonie zum Besten geben. Der Rauch des Kühlturms und die Wolken gehen ineinander über, was für ein surrealer Anblick.

Alle paar hundert Meter erinnert mich ein Schild daran, hier bloß nicht ins Wasser zu springen. Ein bisschen fühle ich mich wie im Niemandsland, zumal hier auch kaum jemand unterwegs ist, und wenn dann nur mit dem Fahrrad.

Ich bin in letzter Zeit öfter gefragt worden warum ich das ganze – naheliegend wäre es ja – nicht einfach mit dem Fahrrad mache. Ganz einfach: Weil ich keine Lust habe. Ich war noch nie die begnadete Radfahrerin, und es reicht mir, mich jeden Tag ins Büro abzustrampeln, weil es gesund und umweltfreundlich ist, ich mein Fahrrad ganz okay finde und ich mehr von der Stadt zu sehen bekomme. Basta. Und wenn ich zurückdenke, läuft es im wesentlichen wohl ganz häufig in meinem Leben darauf hinaus, einen Fluss entlang zu gehen. Das habe ich von Frankfurt aus am Rhein gemacht, an der Mosel und am Main, nur dann kamen die Berge. Vielleicht war’s das Küstenwandern in Großbritannien, das mich zum Flußwandern zurück gebracht hat. Ein wenig ist es wie ein Kinofilm der seitlich neben einem abgespult wird, in der – nach meinem Geschmack – exakt richtigen Geschwindigkeit.

Viele der Abschnitte sind so ruhig, dass ich bis auf das Wasser, das fast orchestrale Summen und Surren der Insekten und das Rauschen der Blätter nichts anderes höre. Ich frage mich ob es Menschen gibt, die die Baumart anhand des Blätterrauschens bestimmen können? 

Manchmal passiert es mir, dass ich mich fast wie in Trance gehe, und genau das geschieht an diesem Tag. Unbeschreiblich schön finde ich den Weg entlang des Stausees kurz nach Wörth von wo ich eigentlich nach Hause fahren wollte aber letztlich doch weiter gegangen bin. Ich überschreite die 100-km Marke laufe weiter nach Dingolfing, bis ich nicht mehr kann.
Nach 38 Kilometern ist Schluss. Lesson learned: Es ist wurscht, ob man 15 oder 25 Kilometer geht, aber es macht einen verdammt großen Unterschied, ob man 30 oder 31 Kilometer geht.


Etappe #06.
Dingolfing – Landau
25. Juli 2020

Ohne undankbar sein zu wollen – es ist nicht unbedingt die bevorzugte aller Etappen, wenn auch der Tag mit einem kleinen Spaziergang durch Dingolfing ganz vielversprechend anfängt.

Mich nervt der asphaltierte Fahrradweg im Wald, vielleicht hätte ich mich für die andere Seite entscheiden sollen. Glücklicherweise kann ich zwischendurch ein paar freie Blicke einfangen und nach einer gefühlten Ewigkeit die Isar schließlich überqueren. Aber das ist so eine Sache auf der anderen Seite. Man möchte ja meinen, dass man sich bei so einer Flußwanderung nicht verlaufen kann, und in der Regel ist das auch so, aber es gibt Ausnahmen, insbesondere dann, wenn man sich nicht auf offiziellen Wanderwegen bewegt.

Wenn man da nicht aufpasst, landet man schnell mal an einem unpassierbaren Bachlauf, mitten im Auengestrüpp, wo man froh sein kann, wenn man bald wieder aus dem Dickicht herausfindet ohne allzu vielen Brennnesseln zum Opfer gefallen zu sein. In solchen Situationen mache ich übrigens nicht so gerne und daher eher weniger Fotos.

Auf den letzten Kilometern erwischt mich noch ein ordentlicher Regenschauer mit dem keiner gerechnet hat und mein heutiger Zielort Landau an der Isar heißt mich bedauerlicherweise auch nicht mit einem gemütlichen Café willkommen. Also halte ich Ausschau nach einer Tankstelle (!) um meine Wasservorräte aufzufüllen. That’s real life! Immerhin tröstet mich der Anblick und das Dach des denkmalgeschützten Bahnhof über einen etwas mühseligen Tag hinweg und ich weiß, dass es bestimmt wieder bessere Abschnitte geben wird.


Etappe #07.
Landau – Plattling
01. August 2020

Ich habe nicht mitgezählt bei der Vielzahl der Brücken, denen ich entlang der ganzen Wanderung begegnet bin, über die ich drüber gelaufen und auf die Isar geschaut habe oder unter denen ich durchgegangen bin und deren Pfeiler ich von unten aus betrachtet habe.  Ich habe sie auch nicht alle bis ins kleinste Detail in Augenschein genommen und über sie recherchiert, wann sie erbaut wurden, wie sie konstruiert sind, welche Spannweite sie haben usw. Beeindruckt haben sie mich dennoch fast alle, in die eine wie in die andere Richtung – ich habe sie vor allem sehr differenziert wahrgenommen, die Brücken für Fußgänger und Fahrradfahrer, für Bahnlinien und den Autoverkehr. An dieser Stelle muss ich es loswerden, wie hochgradig absurd es sich anfühlt, inmitten der Natur plötzlich unter einer betonierten Autobahnbrücke durchzugehen, während über einem lautstark der Verkehr rauscht. Es tut richtig gehend weh.

Die schönste aller Brücken nördlich der ebenso fantastischen Großhesseloher Brücke jedenfalls ist meiner Meinung nach die alte Bockerlbahnbrücke bei Landau an der Isar, der Überrest einer aufgelassenen Bahnlinie. Heute denkmalgeschützt und Fußgängern und Fahrradfahrern vorbehalten. 

Bei jeder Brücke, gerade wenn die nächste erst weit entfernt kommt, stellt sich die Frage nach der „besseren“ Seite. Ja, ich habe mir für jede Etappe wahnsinnig viele Gedanken darüber gemacht, auf welcher Seite ich gehen würde. Üblicherweise studiere ich vorab Karten nach Wanderwegen und sonstigen Fußpfaden, und ansonsten sind die wichtigsten Faktoren natürlich die Wegebeschaffenheit (asphaltiert/unbefestigt), die Vegetation und nicht zuletzt der Sonnenstand (ganz wichtig). Es gibt _nichts_ Schlimmeres, als den ganzen Tag gegen die Sonne zu laufen und praktisch nichts zu sehen.

Es gibt aber auch wenig Schlimmeres als an einem unerträglich heißen Tag in der Sonne zu laufen, selbst wenn man die Sonne im Rücken hat. Aber ich hatte nun mal dazu entschlossen, auf dem Deich links der Isar zu gehen, weil der Weg da oben nicht asphaltiert ist und man ein bisschen mehr sieht, anders als auf der gegenüberliegenden Seite, wo ich stundenlang auf dem asphaltierten Weg im Wald gegangen wäre und nicht mal gemerkt hätte, dass ich mich in der Nähe der Isar befinde. Highlight entlang der Strecke: Der Moment an dem ich zum ersten Mal am Horizont den Bayerischen Wald erblicke. 

An dem Tag wäre ich ja gerne bis zur Isarmündung weitergegangen, nach den vielen Stunden in der Sonne ohne adäquates Schattenplatzerl zum Pausemachen war ich jedoch etwas erschöpft. Nachdem es also a) wirklich unbeschreiblich heiß war, ich b) kein Wasser mehr hatte und c) dachte, dass mehr als 20 Kilometer bei der Hitze auch genug sind, ließ ich’s bleiben. Zu groß war die Versuchung kurz vor Plattling, ins kühle Wasser der Isar zu hüpfen. Die beste Entscheidung der ganzen Wanderung!

Von meiner kleinen Privatinsel aus kann ich wunderbar die Railjets auf dem Weg nach Wien oder Frankfurt beobachten, wie sie über die Eisenbahnbrücke gleiten. Wie oft ich über diese Brücke wohl schon gefahren bin, ohne mir Gedanken darüber zu machen, dass der Fluss hier die Isar ist? Im Wasser planschend stemme ich mich gegen den Strom. Der Gedanke liegt nahe, weiter zu schwimmen als weiter zu gehen bei diesen Temperaturen. Verlockend wär’s ja…


Unbeschwert, abgekühlt und erfrischt schlendere ich noch ein paar Schritte durch Plattling, den Ort dessen Namen ich nur allzu gut von Ansagen aus dem Zug kenne. Prädikat: Aussteigen lohnt sich, sei es auch nur um sich an einem heißen Sommertag am Stadtplatz ein Eis zu holen, oder um von hier aus die Waldbahn Richtung Bayerischen Wald zu nehmen.


Etappe #08.
Plattling – Deggendorf.
16. August 2020

Die letzte Etappe! Zugegebenermaßen war ich für die letzte Etappe zwischen Plattling und Deggendorf mäßig motiviert. Ich hätte auch auf einen Berg gehen können, wenn es darum gegangen wäre, von spektakulärer Kulisse umgeben zu sein. Die Voraussetzungen waren einfach nicht die günstigsten. Schienenersatzverkehr zwischen Landshut und Wörth, der die inzwischen eh schon immer länger werdende Anfahrt noch mehr in die Länge gezogen hat, dann noch plötzlicher zäher Morgennebel, der sich zum Glück im Laufe des vormittags bald verzogen hatte. Ich wollte endlich „fertig“ werden mit der Isar und bei der Donau ankommen.

Um die zehn Kilometer lang habe ich die Gelegenheit mich von der Isar zu verabschieden. Moment jetzt: Nicht emotional werden. Die gute Isar ist keine 600 Meter Luftlinie von meinem Büroschreibtisch entfernt und ich kann mich theoretisch jede Mittagspause an ihr Ufer setzen. Aber: Die Isar da oben in Niederbayern kurz vor ihrer Mündung ist was anderes als die in München. Diese Einsamkeit und Ruhe werde ich in München nicht finden, wo sich auf wenigen hundert Metern die Massen tummeln während die Flussufer hier über zig Kilometer lang menschenleer zu sein scheinen.

Es ist eine überaus schöne und gefällige Etappe durch die Auenlandschaft nach den vielen manchmal eintönigen Kilometern im regulierten Bereich der Isar. Frech und wild schlängeln sich kleine Nebenläufe und Weiher neben dem Hauptlauf, der Weg ist immer noch gesäumt von bunten Sommerblumen, und selten verliere ich den Blick auf das Wasser. Keine Menschenseele kommt mir entgegen und irgendwie geht alles ganz schnell. 

Auf die letzten zwei Kilometer werde ich ganz unruhig, und es kommt mir so vor als hätte die Isar neben mir nochmal richtig Fahrt aufgenommen als sie so an mir vorüberzieht wie ein breiter Teppich, bevor sie ein paar hundert Meter weiter von der Donau verschluckt wird.

Noch ein Kilometer. 1,0. 0,8. 0,6. Die Schilder laufen wie von selbst an mir vorbei, aber die Erhabenheit des Moments wird jäh getrübt von der Beschaffenheit des Weges auf den letzten 600 Metern. Einfach grausam. Ein kaum definierter, matschiger schmaler Weg gesäumt von mannshohen Brennnesseln und begleitet von allerhand stechenden Insektenarten. Aber nein, ich  denke nicht mal eine Sekunde daran, umzudrehen, wenn ich schon die ganze Strecke bis hier her hinter mich gebracht habe. Unbeirrt laufe ich weiter durchs Gestrüpp nach links und plötzlich tut sich die Donau von mir auf.

Ich versuche weiter meinen Weg durchs Dickicht zu verfolgen und blicke nach rechts und sehe unmittelbar die Isar vorbei fließen, die ich noch deutlich weiter entfernt vermutet hatte. Woahhh! Wie wahnsinnig schmal der Landstrich zwischen den beiden Flüssen doch ist. Ein paar Schritte noch, und dann stehe ich also da, an dem Punkt auf den ich seit Wochen über 150 Kilometer lang zugelaufen bin, und an dem die Isar in die Donau fließt. 

Es ist ganz schwer zu beschreiben das Gefühl, wenn man an so einer Spitze steht und beobachtet, wie sich ein Fluss in einem anderen auflöst. Lass los, denke ich mir, lass sie gehen…
Hier an der Mündung ist es vor allem eines: laut. Zum Glück übertönt das Rauschen des Wassers den Verkehrslärm vom gegenüberliegenden Donauufer.

Der Weg zurück durch den gefühlten Dschungel ist genau so übel wie der Weg hinwärts, und alles an mir klebt. Sonnencreme, darüber Insektenspray, und oben drauf allerhand Gestrüpp und Matsch. Dennoch lege ich quietschvergnügt die letzten Kilometer nach Deggendorf zurück, und springe dort für einen Moment in die Donau. Und nein – ich weine der Isar nicht nach. Ich bin ganz aufgekratzt, hier angekommen zu sein und bin neugierig auf die Richtungs- und Landschaftsänderung. Mich überkommt ein schräger Gedanke: Obwohl es im wesentlichen die gesamte Strecke _nur_ bergab ging, kommt es mir vor, als hätte ich soeben einen Berggipfel bestiegen. Ich überquere die Brücke, blicke hinunter zur Donau und fühle mich angekommen, auch wenn ich immer noch so weit weg bin von Wien. Irgendwie ist die Donau ja doch meine Isar. Hinter Deggendorf tut sich der Bayerische Wald auf und scheint ein wenig nach mir zu rufen.

Ich weiß noch nicht so recht, wie es nun weiter gehen wird, jetzt wo ich an der großen Donau angekommen bin und noch über 300 Kilometer bis nach Wien vor mir habe. Bis jetzt war die Logistik verhältnismäßig einfach, immer von Bahnstation zu Bahnstation, ohne irgendwo übernachten zu müssen, dazwischen immer zurückfahren und am nächsten Montag weiter arbeiten, ab jetzt wird das nicht mehr so einfach gehen. Einen unbefestigten Fußweg werde ich direkt an der Donau vergeblich suchen. Ab also ins Hinterland was die Sache vor allem länger machen wird. Hätte ich einen stärkeren Rücken, würde ich mit meinem Schlafsack und Zelt einfach weiterziehen, aber wenn ich etwas innerhalb der letzten 150 Kilometer gelernt habe, dann meine Grenzen ernst zu nehmen, weil es letztlich ja doch um den Spaß und die Freude an der Sache geht, nicht um die Leistung.

Vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit, an dieser Stelle eine Pause zu machen und endlich den Bayerischen Wald zu erkunden, nachdem ich ihm hier in Deggendorf näher gekommen bin als je zuvor.


Weitere Hinweise:

Tagesetappen: 8

Länge: jeweils zw. ca. 15 km und 38 km (incl. Fußwege zum Bahnhof / vom Bahnhof).

Zeitraum: 08 / 05 / 2020 – 16 / 08 / 2020

Quellen und weiterführende Links:

Isar, Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Isar

Münchner Schotterebene
https://de.wikipedia.org/wiki/Münchner_Schotterebene

Schloss Erching
https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Erching

Erdinger Moos
https://de.wikipedia.org/wiki/Erdinger_Moos

Kaffeerösterei Bohnenfee, Moosburg
https://www.bohnenfee.de

Sting: All This Time, Lyrics
https://songmeanings.com/songs/view/10442/

Vogelfreistätte Mittlere Isarstauseen
https://de.wikipedia.org/wiki/Vogelfreistätte_Mittlere_Isarstauseen

Cafe Nomnom, Landshut
https://nomnom.bio

Kernkraftwerk Isar II
https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Isar

Bockerlbrücke, Landau
https://regiowiki.pnp.de/wiki/Bockerlbrücke_(Landau)

Isarmündung
https://de.wikipedia.org/wiki/Isarmündung

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