Allgemein, Reisezeilen

Der letzte Krapfen.

Remember the last pre-pandemic thing you did. Der letzte unbeschwerte Tag, das wirklich letzte Erlebnis in kollektiver Ahnungslosigkeit bevor sich ein allgegenwärtiges mulmiges Gefühl einstellen sollte, die letzten Stunden vor dem Filmriss, der am Anfang einer Entwicklung stand, die wir alle wohl kaum für möglich gehalten hatten.

Vielleicht habt Ihr es ja auch anders erlebt, eher schleichend, die einen früher, die anderen später. Bei mir war es explizit ein Ausflug nach Mödling an einem viel zu warmen Februartag am Ende eines wirklich fabelhaften Wochenendes in Wien. Es war der Faschingsdienstag 2020. Ich hatte mir das lange Wochenende frei genommen, um dem Faschingstrubel zu fliehen und die Zeit in Wien nutzen wollen, einmal in jede Himmelsrichtung ins Umland auszuströmen. Ich war in den Donauauen der Lobau im Osten Wiens, bin durch die Weinberge im Norden gewandert, wo ich endlich meine Kahlenberg-Überschreitung von Nußdorf nach Klosterneuburg unternommen habe, habe einen Spaziergang durch die Altstadt von Baden gemacht um meinen ehemaligen Klassenvorstand zu treffen, habe abends ein Konzert im Rahmen des Resonanzen-Musikfestivals für Alte Musik besucht, Freunde getroffen, habe wie immer gefühlte drei Kilo Hummus am Naschmarkt konsumiert und war sowieso guter Dinge.

Am Tag meiner Rückfahrt nach München, und als hätte ich es unwissentlich darauf angelegt, diese wenigen Stunden bis zur letzten Sekunde auszunutzen, standen noch die Föhrenberge im (Süd-)Westen bei Mödling auf dem Programm. Ich wollte unbedingt zu meinen heißgeliebten Schwarzkiefern, ein bisschen durch den Wald gehen und Bäume schauen.

Diese kleine, feine Tour auf den Kalenderberg, der zum Zeitpunkt seiner Aufforstung Anfang des 19. Jahrhunderts den Namen Kahlländerberg trug, zeichnet sich schon mit einem unschlagbaren Preis-Leistungsverhältnis aus. Sie ist kurz genug, wenn man (ich) am selben Tag noch nach München fahren muss, öffentlich erreichbar, landschaftlich abwechslungs- und aussichtsreich, und gleichzeitig lässt die Altstadt des historischen Orts mit seinen hübschen Fassaden jedes denkmalaffine Herz höher schlagen.

Die Runde um den hinter der Pfarrkirche gelegenen und vollständig mit Schwarzkiefern bewaldeten Kalenderberg hat mit allerhand Attraktionen aufzuwarten. Aber bloß nicht in die Irre führen lassen! Mögen die Bauten und Ruinen ganz schön geschichtsträchtig herüberkommen, wurden sie erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts errichtet und sind dem Fürst von Liechtenstein Johann Joseph zu verdanken.

Unser Weg führt gegen den Uhrzeigersinn an allen Bauten und Gesteinsresten vorbei, am Amphietheater, der Burg Liechtenstein, wo ich beschließe, am heutigen Faschingsdienstag als Burgfräulein zu gehen, dem Pfefferbüchsel und nicht zuletzt dem Schwarzen Turm. Ein bisschen Kulisse darf schon sein, denke ich während ich einen Ausblick durch die Kiefern-Baumstämme hinüber Richtung Hinterbrühl und zur A 21 bei Gießhübl einfange. Wienerwaldromantik pur!

Beim Schwarzen Turm, der nächsten Ruinen-Attrappe, und neben einem wunderhübschen Kiefern-Exemplar gibt’s unser obligatorisches und wie immer fabelhaftes Picknick mit Blick hinunter ins Wiener Becken, nach Mödling und auf das um 1870 errichtete Aquädukt der Wiener Hochquellenwasserleitung.

Gegenüber, auf der anderen Seite des Mödlingbachs, lacht uns der Husarentempel aus für Wienerwald-Verhältnisse luftiger Höhe an. „Da gehen wir das nächste Mal hin, wenn ich da bin.“ sage ich bestimmt und ohne mir auch nur irgend etwas dabei zu denken. Aus heutiger Sicht kaum zu glauben, dass wir im Laufe des Jahres tatsächlich einmal dort waren.

Auf dem Weg zum Bahnhof spazieren wir noch einmal durch die reizende Altstadt, entdecken allerhand Hinterhöfe, uralte Kopfsteinpflaster, historische Kastenfenster, die nach außen aufgehen, verblichene Werbeaufschriften an Feuermauern, verlieren uns fast in der Zeit und ergattern gerade noch einen Platz im Mini-Café Mister Bean’s in der Sonne wo wir uns einen exzellenten Kaffee und unseren müden Füßen eine kurze Verschnaufpause gönnen. Als wäre das alles nicht schon perfekt genug, bekommen wir noch die letzten Krapfen des Tages geschenkt. Ich würde behaupten, das war definitiv der beste Krapfen meines Lebens und irgendwie ist dieser letzte Krapfen, den ich so sehr genossen habe, zum Sinnbild geworden für den letzten sorglosen Moment in vor-pandemischen Zeiten.

Einige Stunden und eine Zugfahrt von Wien nach München später schaue ich am Abend die Zeit im Bild 2. Österreich vermeldet seine ersten bestätigen Corona-Fälle und die Geschichte begann ihren Lauf zu nehmen. Wie wertvoll diese Stunden doch waren. In dem Sinne: Appreciate your memories.


Weitere Hinweise:

Besucht am: 25 / 02 / 2020


Weiterführende Links & Quellen:

Tour zum Nachgehen auf komoot.de:
https://www.komoot.de/tour/307888841?share_token=a2op6K1wihfnmHxrUWV3EVc81x1a38XEd0hMfbkui5sWuA41Y9&ref=wtd

Kalenderberg Mödling, Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Kalenderberg

Naturpark Föhrenberge, Wikipedia
https://de.wikipedia.org/wiki/Naturpark_Föhrenberge

Ähnliche Artikel: Vor den Toren Wiens

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s