
Es war ein gerade mal briefmarkengroßes Foto des Pembrokeshire Coastal Paths in einer britischen Wanderzeitschrift, das mich dazu inspirierte, im August 2018 nach Wales zu reisen. Wieder in bekannter Manier mit dem Zug von München aus über Brüssel und London.
Den kurzen und völlig verregneten Zwischenstopp in London nutze ich dazu, abseits der ausgetretenen Touristenpfade endlich Sir John Soane’s Museum zu besuchen. Eine wahre Schatztruhe des britischen Architekten und leidenschaftlichen Sammlers, die man hier betreten darf.
Wenige Stunden später schon befinde ich mich wieder im Zug und lege noch einen weiteren Halt in Bristol ein bevor es in die Abgeschiedenheit der walisischen Natur geht. Eine durchaus gute Wahl, wie sich schnell herausstellen würde, denn das ehemalige Zentrum der Schwerindustrie muss sich in den letzten Jahren ziemlich gemausert haben. Hier wimmelt es förmlich vor Kreativität, Kunst, Industriekultur und Ideenreichtum. Der ehemalige Hafen lädt dazu ein, all dies einzuatmen, und gleichzeitig bestechen Teile der Altstadt mit exquisiter historische Bausubstanz. Um nur ein Beispiel zu nennen die Bristol City Library, ein Bauwerk von 1906 welches an das schon viel ältere und reichlich verzierte Abbey Gatehouse anschließt, dessen Geschichte bis ins Jahr 1170 zurück geht, als es noch als Pförtnerhaus der Vorgängerkirche von Bristol Cathedral fungierte. Eine gelungene historische Verquickung von Alt und damals noch Neu.

Gleich danach schlendere ich noch durch den quirligen St. Nicholas Market, mache mich auf die Suche nach den bekannten Banksy Murals, die sich überwiegend auf fensterlosen Wänden über die ganze Stadt verteilen, klappere winzige und liebevoll dekorierte Läden mit allerhand Handgefertigtem ab, und laufe hinterher meilenweit den Kanal parallel des Rivers Avon entlang bis die Sonne untergeht.
Am nächsten Morgen verlasse Bristol mit einem Gefühl von „Hier-geht-was“, inspiriert und aufgetankt. Was für ein gegensätzliches Bild mich in Cardiff erwartet! Hier geht es schon deutlich rauer zu. Über der Stadt hängen dunkle Wolken, die Regen ankündigen. Der Wind wirbelt Laub und ziemlich viel Müll durch die Luft. Es ist Samstag Nachmittag und aufgrund der ungewöhnlichen Lage des Rugby-Stadions mitten im Stadtzentrum findet die wöchentliche Party der Fans auch eben genau da statt. Auf den Straßen überall grölende Fans, die mir besoffen ihre Bierbecher unter die Nase halten. Was hat mich bloß hier hingezogen? Der Bahnhof erinnert eher an eine heruntergekommene Tankstelle und sieht nicht unbedingt nach dem Dreh- um Angelpunkt einer Hauptstadt des Vereinigten Königreichs aus. Also begebe ich mich auf die Suche nach den versteckten Schönheiten der Stadt und – finde sie!

Ich besorge mir ausnahmsweise einen Audio Guide für das Cardiff Castle und lasse mich durch die zum Teil ziemlich surreal ausgestatteten Räume führen, ich begebe mich in das Labyrinth der zahlreichen Passagen, den Arcades, die sich gegenseitig durch ihre jeweiligen Besonderheiten zu übertrumpfen versuchen. Sei es durch die verwinkelte bzw. gar geschwungene Wegeführung, oder eine eindrucksvolle mehrgeschossige Holzkonstruktion mit einer begehbaren Galerieebene, verspiegelten Wänden die einen glauben lassen, hier ginge es ewig weiter. Alles ein bisschen wie bei Alice im Wunderland, fehlt nur noch, dass hinter der nächsten Ecke die Grinsekatze lauert.

In der viktorianischen Markthalle (walisisch Marchnad Caerdydd) stoße ich erstmals auf die landestypischen und verdammt köstlichen Welsh Cakes und kann deren Herstellung beobachten. Ich verbringe einen verregneten Vormittag in einem entzückenden Café (The Plan Café) um mich bei einer Tasse Tee aufzuwärmen und einen mit Erdbeermarmelade gefüllten Scone zu essen. Ein Ritual. Draußen auf der Straße wehen überall Fahnen mit dem walisischen Drachen. Sieht so aus, als wäre ich angekommen in Cymru.

Ich reise weiter nach Tenby, dem pittoresken Fischerstädtchen mit seinen bunt gestrichenen Häuschen an der südwestlichen Küste, das Erinnerungen an Portree auf der Isle of Skye in Schottland hervorruft. Von hier aus starte ich meine Wanderung entlang des Pembrokeshire Coastal Paths, wo ich die folgenden fünf Tage verbringen werde.

Der 1970 eingerichtete Wanderweg an der Küste im Südwesten des Landes befindet sich in der walisischen Grafschaft Pembrokeshire, ist einer der offiziellen Fernwanderwege Großbritanniens und führt über ca. 300 km von Amroth nach St. Dogmaels. Markiert ist der Weg durch das Symbol einer Eichel auf einem Holzschild. Die Orientierung entlang des Weges ist jedoch denkbar einfach. Linkerhand das Meer, rechterhand meistens grasende Schafe, alternativ auch mal Pferde oder gar Kühe und ansonsten geradeaus gehen. That’s it. Im Wesentlichen. Ich hatte die Befürchtung, dass dies auf Dauer langweilig werden könnte, aber ich nehme alles zurück. Die größte Überraschung sind die doch beträchtlichen Höhenmeter – ja, liebe Bergfreunde, ehrlich!, die man im Laufe eines Tages sammelt, denn unentwegt geht’s die Steilküsten bergauf, bergab bis runter zum Wasser und dann wieder hinauf, und wirklich jedes Mäander entlang der Küstenlinie geht man aus. Gnadenlos.
Im stürmischen Wind stehe ich an einer Felskante, blicke hinunter auf das tosende Wasser und habe ganz plötzlich Höhenangst wie sonst nie auf einem Berg, und das gerade mal 40 oder 50 Meter über dem Meeresspiegel. In diesem Moment werde ich ganz klein, ich versuche mir unter Berücksichtigung der ständigen Wasserbewegung die Küstenlinie dieser britischen Insel vorzustellen und bekomme große Lust, sie komplett entlang zu gehen.

Entlang des Weges sind nicht besonders viele Menschen unterwegs. Es sind hauptsächlich Engländer, die hier gerne Urlaub machen und mir alle erzählen, dass es hier so ist wie in Cornwall, ebenso schön, aber weniger frequentiert und gleichzeitig günstiger (pssst, bitte nicht weitersagen). Sie sind alle deutlich gesprächiger als man von den Briten annehmen würde und durchwegs gut drauf. Selbst nach dem unangenehmsten Regenschauer, in dem ich mir zum wiederholten Male die Frage stelle, warum ich mir so etwas immer wieder freiwillig antue, wenn doch damit zu rechnen ist, dass es hier permanent regnet, werde ich von entgegenkommenden Wanderern fröhlich mit den Worten „It’s a lovely day today darling, isn’t it?“ gegrüßt. Ja. Right.
In der Nähe von Manorbier treffe ich einen älteren Herren der mich nach meiner Herkunft fragt. Er erzählt mir, dass er Zeit seines Lebens hier im Dorf an der Schule Musik unterrichtet hat und als großer Liebhaber von Anton Bruckners Musik einmal nach Wien gereist ist und sogar das Kloster St. Florian besucht hat. Und schon plaudern wir über die Symphonien Bruckners, summen daraus unsere Lieblingsstellen. Wie klein die Welt doch ist!
Die vermutlich beste Zeit erlebe ich dennoch in Broad Haven, wo ich mein Zimmer in der Jugendherberge mit ganz wunderbaren Damen teilen darf. Bis tief in die Nacht erzählen wir uns gegenseitig aus unserem Leben, kommen aus dem Lachen kaum heraus. Am nächsten Tag pflücken wir gemeinsam frische Brombeeren, die in dieser Zeit wahrlich alle Wege säumen, schließen Fotos, essen unfassbar guten Kuchen in einem goldigen Café (Corner House Café) in Little Haven und lassen es uns gut gehen. Dann überkommt es mich. Ich schnappe mir zwei der Mädels und stifte sie dazu an, mit mir gemeinsam das zu tun was alle anderen britischen Urlauber hier auch machen, nämlich bei jedweder Witterung ins Wasser zu springen. Am Strand befindet sich eine Kreidetafel auf welcher mit großen Lettern „Temperature 16 °C, Conditions drizzle“ steht. In unsere Badetücher gehüllt und dennoch frierend schauen wir einander höchst skeptisch an. Wir zögern eine Sekunde, lassen unsere Badetücher gleichzeitig fallen und rennen los. Ein Moment grenzenloser Freiheit, Freude und Unbeschwertheit.

Zunächst fällt es schwer, Broad Haven wieder zu verlassen und alleine weiterzugehen, zumal der nächste Tage so richtig mieses Wetter mit sich bringt. Trotzdem wartet auf mich mit der Kathedrale von St. Davids eine Belohnung. Man sollte ja mit Superlativen sparen, aber diese riesige Kirche im noch normannischen Stil aus überwiegend grauem, kambrischen Sandstein verdient so einige. Diese tolle Holzdecke oberhalb des Hauptschiffes und Arkaden des Langhauses, das Fächergewölbe oberhalb des Chors, die Orgel. Hach.
Never trust British weather forecast. Ich hatte mich so sehr auf gutes Wetter gefreut, wie es für den nächsten Tag vorhergesagt war, alleine schon weil ich meine ganzen Sachen endlich mal wieder trocken kriegen wollte. Aber stundenlang marschiere ich unter den wieder dunklen Wolken und möchte nicht undankbar werden. Ich befinde mich immer noch inmitten einer ziemlich schönen Landschaft und wenigstens regnet es nicht.

Einige Stunden später sitze ich in Porthgain (walisisch für beautiful port), einem – wie der Name eben schon sagt – einem hübschen, aber auch sehr verschlafenen Hafenstädtchen auf der Terrasse des Dorfpubs und bestelle mir als Wiedergutmachung für den fehlenden Sonnenschein einen leicht angetoasteten Welsh Cake mit einer Tasse Kaffee, als es in diesem Moment dann doch noch so richtig anfängt zu regnen. Schnell versammeln wir uns alle draußen sitzenden Optimisten unter einem großen Schirm, ich schlucke das letzte Stück meines labbrigen, aufgeweichten Welsh Cakes hinunter und beobachte mit den anderen, wie eine Möwe mit großem Genuss die unbewachten Fish & Chips auf dem Nachbartisch auffuttert. Der Regen wird immer stärker, ich denke mir „Whatever!“, gehe hinein ins Pub, bestelle mir einen Tee und fange an meine erste und einzige Postkarte zu schreiben. Ich bin fertig mit dem Tag, müde, und irgendwie ein bisschen genervt. Plötzlich blinzelt ein kleiner Lichtstrahl in den Raum, mein Kugelschreiber wirft einen dezenten Schatten auf die Postkarte, ich blicke hinaus und sehe tatsächlich blauen Himmel. Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, von hier aus den Bus zur nächsten Jugendherberge zu nehmen, werfe den Gedanken sofort über Bord, schnalle meinen Rucksack an und gehe weiter.
In den folgenden Stunden offenbart sich mir ein Naturschauspiel sondergleichen. Schafweiden, soweit das Auge reicht, ein strahlend blauer Himmel, der sich in funkelndstem Blau im Meer spiegelt und einen Wahnsinnskontrast zu den goldenen Wiesen bildet, deren hohes Gras sich im Takt der leichten Brise bewegt. Faszinierende Felsformationen und eine gefühlt unendliche Weite in alle Himmelsrichtungen. Vor dem letzten „Abstieg“ hinunter nach Abercastle, das versteckt liegende Dorf in der Bucht, fühle ich mich schwerelos wie ein Vogel, der über diese weiten Wiesen fliegt. Ich verbringe die letzte Nacht an der Küste in der Jugendherberge Pwll Deri, die sich alleine schon durch ihre gigantische Lage und ihrem entsprechenden Blick aufs Meer auszeichnet. Was für ein fulminanter Abschluss!

Um nach diesen eindrucksvollen Tagen wieder zurück in die Zivilisation zu kommen, verbringe ich auf meiner Rückreise noch einen Tag in…
„Bath! Wie unverschämt fotogen bist du?“ frage ich mich unmittelbar nach meiner Ankunft. Diese Stadt ist eine der wenigen, die auch im Regen schön ist. Dann glänzen die beigefarbenen Mauern aus dem Kalksandstein der Cotswords fast noch mehr als bei Sonnenschein.

Ich spaziere durch die Straßen und trotz aller Schönheit fällt es mir schwer, mich nach den vielen Erlebnissen auf die Stadt so richtig einzulassen. Also schnuppere ganz bewusst nur an der Oberfläche, um all das, was die Stadt zu bieten hat, in einem zukünftigen Besuch genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich registriere einige der bekannten Attraktionen so mehr oder weniger. Putney Bridge, the Royal Crescend, das Fashion Museum und Jane Austen Center, die Roman Baths – von außen. Schließlich nehme ich Platz in der Bath Abbey, wo ich auf das gigantische Gewölbe im perpendicular Style, dem in England dominierenden Stil der Spätgotik, empor blicke und dem Gesang eines Chores während seiner Probe lausche. Ich halte inne und bleibe lange sitzen.

Schlussakkord. Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.
Besucht im August 2018
Orte (Auswahl):
London, Bristol, Cardiff, Tenby, Manorbier, Little Haven, Broad Haven, St. Davids, Porthgain, Abercastle, Fishguard, Bath
England und Wales
Quellen und Weiterführende Links:
Wales‘ Pembrokeshire Coast Path
https://www.visitwales.com/de/freizeitaktivitaeten/abenteuer-aktivitaeten/wandern/wales-pembrokeshire-coast-path